Tierwohl schlägt Religionsfreiheit

Zum Urteil des EGMR in Sachen Executief van de Moslims van België u. a. ./. Belgien (16760/22 u. a.) vom 13. Februar 2024

Theodor Schilling

Aix-en-Provence, Dr. jur. utr., LL.M. (Edin.), apl. Professor, Humboldt-Universität zu Berlin.

DOI: https://doi.org/10.60935/mrm2024.29.1.6

Zusammenfassung – nichtamtliche Leitsätze

1. Die rituelle Schlachtung von Tieren fällt in den Schutzbereich des Rechts, seine Religion durch das Praktizieren von Riten im Sinne von Art. 9 EMRK zu bekennen. Ernährungsvorschriften lassen sich unter das Praktizieren von Bräuchen subsumieren. Religionsinterne Meinungsverschiedenheiten hierüber können den Beschwerdeführern die Rechte aus Art. 9 nicht nehmen.

2. Die Förderung des Tierwohls lässt sich als moralischer Wert betrachten, wobei der Begriff „Moral“ von Natur aus entwicklungsoffen ist.

3. Wenn es um Fragen des Verhältnisses des Staates zu Religionen geht und über diese Fragen kein klarer europäischer Konsens besteht, sich aber eine graduelle Entwicklung hin zu einem verstärkten Schutz des Tierwohls abzeichnet, kommt dem Vertragsstaat ein nicht enger Entscheidungsspielraum zu.

4. Die Qualität der gesetzgeberischen Prüfung ist von besonderer Bedeutung, wenn es bei dem gerügten Eingriff um eine allgemeine Norm geht. Die gerichtliche Überprüfung eines solchen Eingriffs muss die Anforderungen von Art. 9, wie sie der EGMR versteht, im Einzelnen berücksichtigen.

5. Die zuständigen Stellen müssen sich um eine Abwägung der streitigen Rechte und Interessen sowie um einen fairen Ausgleich zwischen ihnen bemühen, damit die beanstandete Maßnahme in den staatlichen Entscheidungsspielraum fällt.

Keywords: Religionsfreiheit, Tierwohl, Schutz der Moral, Leben der EMRK, Entscheidungsspielraum, Verhältnismäßigkeit, „procedural turn“, Deferenz

Citation: Schilling, T. (2024). Tierwohl schlägt Religionsfreiheit. MenschenRechtsMagazin 29. https://doi.org/10.60935/mrm2024.29.1.6.

Received: 04-03-2024 | Accepted: 17-01-2024 | Published: 12-06-2024

Contents

I. Das Besprechungsurteil

Die belgischen Regionen Flandern und Wallonien haben mit je eigenem Dekret das Schächten von Tieren nur mit der Maßgabe erlaubt, dass das Tier zuvor (umkehrbar) betäubt wird. Die Beschwerdeführer, im Wesentlichen islamische Vereinigungen und jüdische Privatpersonen, sahen darin einen unverhältnismäßigen Eingriff in ihre Religionsfreiheit. Ihr Anliegen, mit dem sie zuvor schon vor dem belgischen Verfassungsgericht und dem EuGH1 gescheitert waren, hatte auch vor dem EGMR keinen Erfolg.

Das Urteil des EGMR (Besprechungsurteil) kann nicht befriedigen: Es räumt dem Tierwohl einen zu hohen, der Religionsfreiheit einen zu niedrigen Stellenwert ein. Es greift die zweifelhafte Lehre von der „gesellschaftlichen Grundentscheidung“ wieder auf, zeigt eine unangemessen hohe Achtung (Deferenz)2 gegenüber nationalen Stellen und wendet erstmals, in Abweichung von der ständigen Rechtsprechung, die Lehre vom „Leben“ der Konvention auf die Einschränkung von Konventionsrechten an, ohne für diese Einschränkung auch nur einen europäischen Konsens feststellen zu können. Zudem vernachlässigt es die Frage der Angemessenheit des Eingriffs. Doch der Reihe nach.

II. Der legitime Zweck der streitigen Regelung

Das Besprechungsurteil beginnt mit der – normativ erwünschten3 –Feststellung, dass das Schächten zum Recht der Beschwerdeführer aus Art. 9 EMRK gehöre, ihre Religion durch das Praktizieren von Riten zu bekennen.4 Dass das Schächten ohne eine vorherige Betäubung des Tieres erfolge, stelle einen Aspekt des religiösen Ritus dar, der für die Beschwerdeführer von Bedeutung sei. Die vorherige Betäubung vorzuschreiben stelle daher einen Eingriff in die Religionsfreiheit der Beschwerdeführer dar.5 Dieser Eingriff könne gerechtfertigt werden, wenn er einem der in Art. 9 Abs. 2 EMRK abschließend aufgeführten, eng auszulegenden legitimen Zwecken diene.6

Während die Subsumtion einer Regelung unter die in der EMRK jeweils aufgeführten legitimen Zwecke generell ohne Schwierigkeiten möglich ist und daher vom EGMR meist nur summarisch geprüft wird,7 erfährt sie im Besprechungsurteil eine ausführliche Begründung.8 Das Tierwohl werde in Art. 9 Abs. 2 EMRK nicht erwähnt.9 Jedoch habe der EGMR in anderen Zusammenhängen anerkannt, dass der Tierschutz ein in Art. 10 EMRK geschütztes Gemeinwohlinteresse darstelle und die Vermeidung von tierischem Leid einen Eingriff in Art. 11 EMRK unter dem Gesichtspunkt „Schutz der Moral“ rechtfertigen könne.10 Auch das Besprechungsurteil greift auf den in Art. 9 Abs. 2 EMRK aufgeführten legitimen Zweck „Schutz der Moral“ zurück: Der Schutz der Moral könne nicht nur als Schutz der Menschenwürde in den zwischenmenschlichen Beziehungen verstanden werden; die Konvention interessiere sich auch für das Umfeld, in dem die geschützten Personen lebten, und insbesondere für die Tiere.11 Das steht in einem gewissen Widerspruch zu dem, was das Besprechungsurteil vorausgeschickt hat, dass nämlich die in Art. 9 Abs. 2 EMRK aufgeführten legitimen Zwecke eng auszulegen seien.12 Man wird bezweifeln dürfen, dass der Begriff „Schutz der Moral“ bei enger Auslegung den Tierschutz einschließt.

Vielleicht hatte das Besprechungsurteil auch selbst Zweifel. Es versucht jedenfalls, das bereits gefundene Ergebnis mit der Lehre vom „Leben“ der Konvention zu stützen. Die in ständiger Rechtsprechung entwickelte Auffassung, dass die EMRK ein „living instrument“ und damit entsprechend den Umständen der jeweiligen Jetztzeit auszulegen sei, soll verhindern, dass der EGMR zu einem Hindernis für Reformen und Verbesserungen werde.13 Von dieser Ratio der Lehre vom „Leben“ der EMRK weicht das Besprechungsurteil erstmals ab: Die Lehre gelte nicht nur für die Konventionsrechte, sondern auch für die Gründe für deren Einschränkung. Es besagt damit, was bisher nur anfechtbare Analysen abweichender Meinungen14 erschließen wollten: dass die Metapher vom „Leben“ der EMRK auch mit dem Ziel einer Abschwächung der Konventionsrechte angewandt werden kann. Als einziger Beleg für diese Neuerung wird das in derselben Sache ergangene Urteil des EuGH angeführt.15 Legt man die ursprüngliche Begründung der Lehre zugrunde, so muss das heißen, dass der EGMR auch nicht zum Hindernis für Einschränkungen von Konventionsrechten werden wolle. Das wäre freilich eine überraschende, mit Art. 19 EMRK kaum vereinbare Begründung.

Der Bruch mit der bisherigen Rechtsprechung wird noch deutlicher, wenn das Besprechungsurteil darauf abstellt, dass das Tierwohl von zahlreichen Personen in den fraglichen belgischen Regionen als moralischer Wert betrachtet werde:16 In der bisherigen Rechtsprechung wird zwar anerkannt, dass die Meinung der Bevölkerung bei Fragen der Rechtfertigung von Eingriffen aus Gründen der Moral eine wichtige Rolle spiele, aber ergänzt, dass dies nur für eine Erweiterung, nicht für eine Einschränkung des Konventionsschutzes gelte. Ausdrücklich heißt es, dass es mit den der EMRK zugrunde liegenden Werten unvereinbar wäre, die Rechte einer Minderheit davon abhängig zu machen, dass sie von der Mehrheit akzeptiert würden.17

Schließlich führt das Besprechungsurteil noch an, dass auch andere Konventionsstaaten ähnliche Regelungen wie die hier streitigen eingeführt hätten,18 ohne freilich einen entsprechenden europäischen Konsens19 festzustellen.20 Vielmehr begnügt es sich mit einem entsprechenden Trend.21 Aufgrund all dieser Gesichtspunkte, die weder für sich noch zusammengenommen überzeugen, subsumiert das Besprechungsurteil das Tierwohl unter den Begriff des Schutzes der Moral. Somit verfolgten die streitigen Dekrete einen legitimen Zweck.

III. Die Verhältnismäßigkeit der streitigen Dekrete

Der Feststellung, dass der Tierschutz ein legitimer Zweck der Einschränkung der Religionsfreiheit sei, folgt die Prüfung, ob die konkrete Einschränkung, also die Tierschutzmaßnahme, das Verbot des Schächtens ohne vorherige Betäubung des Tiers, in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sei, ob also ein „pressing social need“, ein dringendes gesellschaftliches Bedürfnis für die Regelung bestehe;22 das ist Ausdruck des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit23 und verlangt, dass der Vertragsstaat zwingend überzeugende Gründe („convincing and compelling reasons“) für die Einschränkung anführt.24 Für die Wirksamkeit des Schutzes der Konventionsrechte ist diese „Schrankenschranke“ von entscheidender Bedeutung, die der EGMR freilich bereits generell relativiert: Während dem Wortlaut des Art. 9 Abs. 2 EMRK nach Einschränkungen nur zulässig sind, wenn sie in „einer“, also einer idealtypischen demokratischen Gesellschaft notwendig sind, stellt er auf die konkrete demokratische Gesellschaft des Eingriffsstaates ab; dieser könne die jeweilige Sachlage grundsätzlich besser einschätzen als der internationale Richter.25 Dabei komme ihm ein Entscheidungsspielraum zu.26

1. Der „procedural turn“

Das Besprechungsurteil folgert aus dem Grundsatz der Subsidiarität des internationalen Menschenrechtsschutzes, dass den Entscheidungen demokratisch legitimierter Stellen der Vertragsstaaten besonders bei umstrittenen Fragen der allgemeinen Politik besondere Bedeutung zukomme.27 Diese Ausführungen entsprechen dem „procedural turn“ in der Rechtsprechung des EGMR,28 der Wende weg von einer materiellen Prüfung des Handelns des Vertragsstaats hin zu einer mehr formalen Prüfung von dessen Entscheidungsprozessen. Diese Wende auf den Grundsatz der Subsidiarität zu stützen, begegnet freilich Bedenken. Der Grundsatz will zunächst nur besagen, dass Stellen der Vertragsstaaten den Schutz der Konventionsrechte zu gewährleisten haben, bevor der EGMR mit möglichen Verletzungen befasst wird. Die Vertragsstaaten haben so das Recht des ersten Zugriffs auf Verletzungen der Konvention; sie können und sollen ihnen auf nationaler Ebene abhelfen.29 Der Grundsatz gibt ihnen aber nicht das Recht, in bestimmtem Rahmen für den EGMR verbindlich festzustellen, ob die Konvention verletzt wurde, wie es Ergebnis des „procedural turn“ ist.

Jedoch hat die Rechtsprechung des EGMR in manchen Fällen eher unsystematisch angenommen, dass gewisse Beurteilungen solcher Stellen mehr oder weniger ungeprüft stehen bleiben sollten, was im Englischen als „deference“ bezeichnet wird;30 für das Deutsche bietet es sich an, auf das alte Wort „Deferenz“31 zurückzugreifen. Besonders weit geht die Deferenz gegenüber den Gesetzgebern der Vertragsstaaten nach der Rechtsprechung des EGMR bei gesellschaftlichen Grundentscheidungen (choix de société, choice of society).32 Das überrascht, da das, was jedenfalls bisher als solche Grundentscheidung eingestuft wurde33 – das französische34 und belgische35 Verbot der Vollverschleierung, das flämische und wallonische Verbot des Schächtens ohne vorherige Betäubung36 –, nichts anderes war als eine gewöhnliche Entscheidung des Gesetzgebers und damit eine solche der Mehrheit.37 Solchen Grundentscheidungen eine gegenüber Anforderungen der EMRK besonders geschützte Position einzuräumen, ihnen zu deferieren, heißt, den Schutz der Minderheit aus den Augen zu verlieren, der doch das Wesen der EMRK ausmachen sollte.38 Das zeigt das Besprechungsurteil deutlich, das eine solche Entscheidung, die in ein Konventionsrecht von Minderheiten, nämlich deren Religionsfreiheit, eingreift, für konventionskonform erklärt.

a. Das gesetzgeberische Verfahren

Das Besprechungsurteil sieht seine Aufgabe darin, zu beurteilen, ob der Eingriff in die Religionsfreiheit der Beschwerdeführer im Grundsatz gerechtfertigt ist und ob er unter Berücksichtigung des Entscheidungsspielraums der Vertragsstaaten im Hinblick auf den Tierschutz verhältnismäßig ist.39 Zu diesem Zweck betrachtet es entsprechend dem „procedural turn“ vorab, wie es sagt, die Qualität der parlamentarischen und richterlichen Überprüfung des Eingriffs in die Religionsfreiheit, den die streitigen Dekrete bewirken; dieser Qualität komme eine besondere Bedeutung bei der Bestimmung des einschlägigen Entscheidungsspielraums zu.40 Dabei stellt es fest, dass die Gesetzgeber mit aller wünschenswerten Sorgfalt vorgegangen seien.41 Sie hätten sich bemüht, die widerstreitenden Rechte und Interessen in einem wohlüberlegten Gesetzgebungsverfahren abzuwägen.42 Diese Abwägung sei ausdrücklich im Hinblick auf die Erfordernisse der Religionsfreiheit begründet worden, wobei die Gesetzgeber die Folgen der streitigen Dekrete für die Religionsfreiheit geprüft und namentlich eine umfängliche Analyse der Verhältnismäßigkeit vorgenommen hätten.43

Freilich beschränkt sich das Besprechungsurteil auf die Prüfung des formellen Vorgehens der Gesetzgeber (einschließlich der Feststellung dieser umfänglichen Analyse), ohne auf eine materielle Prüfung der Verhältnismäßigkeit einzugehen. Das beruht wohl zum einen auf dem Grundsatz der Subsidiarität, zum anderen darauf, dass die Rechtsprechung des EGMR bis zu seinen jüngsten Entscheidungen kaum einen materiellen Begriff der Verhältnismäßigkeit entwickelt hatte. Zwar war immer klar, dass nur eine zur Erreichung eines legitimen Zwecks geeignete Maßnahme einen Eingriff in ein Konventionsrecht rechtfertigen kann. Ob der Eingriff hierzu auch erforderlich sein muss, ist hingegen in der Rechtsprechung umstritten. Die Große Kammer hat jüngst klar gesagt, dass nur eine zur Erreichung eines legitimen Zwecks erforderliche Maßnahme verhältnismäßig sein kann, nicht ohne dem Vertragsstaat im nächsten Satz einen Entscheidungsspielraum zuzusprechen.44 Frühere Entscheidungen der Großen Kammer haben eine Prüfung der Erforderlichkeit der Maßnahme hingegen wegen der subsidiären Rolle des EGMR abgelehnt und allein auf den Entscheidungsspielraum der Vertragsstaaten abgestellt.45

Was schließlich die Angemessenheit (oder die Verhältnismäßigkeit i. e. S.)46 des Eingriffs im Sinne des aus dem deutschen Recht bekannten Dreisatzes – Geeignetheit, Erforderlichkeit, Angemessenheit –47 angeht, so wird diese zwar, soweit ersichtlich erstmals, in einem Gutachten der Großen Kammer angesprochen.48 Sie wird dort aber nicht als konventionsrechtliche Voraussetzung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs aufgefasst; vielmehr wird es den nationalen Stellen überlassen, festzustellen, ob ein Eingriff angemessen sein müsse.49 Das ist einerseits überraschend, da erst die Prüfung der Angemessenheit eines Eingriffs der Schrankenschranke „Verhältnismäßigkeit“ Zähne verleiht. Verzichtet man auf sie, so lässt sich jede beliebige Einschränkung der Religionsfreiheit oder eines anderen Konventionsrechts rechtfertigen, soweit sie nur zur Erreichung eines beliebigen legitimen Zwecks erforderlich ist. Andererseits aber werden die Vertragsstaaten immerhin verpflichtet, sich Rechenschaft darüber zu geben, ob sie einen zur Erreichung eines Zwecks erforderlichen, aber unangemessenen (unzumutbaren) Eingriff vornehmen wollen.

Im dem Besprechungsurteil zugrunde liegenden Fall haben die Gesetzgeber ungeachtet der dort angesprochenen umfänglichen Analyse der Verhältnismäßigkeit weder die Angemessenheit der Maßnahme noch die Frage geprüft, ob sie einen unangemessenen Eingriff vornehmen wollten. Sie haben zwar festgestellt, dass das Schächten ohne vorherige Betäubung das Tierwohl erheblich beeinträchtige,50 haben dem aber die Folgen der Maßnahme – des Verbots solchen Schächtens – für die Beschwerdeführer nicht gegenübergestellt. Vielmehr haben sie diese Folgen wegdefiniert, indem sie ausgeführt haben, dass auch ein Schächten nach vorheriger umkehrbarer Betäubung den Geist der Ritualschlachtung im Rahmen der Religionsfreiheit respektiere.51 Sie haben damit genau das getan, was die Religionsfreiheit in der Auslegung des EGMR den Vertragsstaaten wie auch ihm selbst verbietet: die Legitimität der Art und Weise zu beurteilen, in der religiöser Glaube (auch durch Riten) ausgedrückt wird.52 Das Besprechungsurteil geht auf diese Frage nicht ein.

b. Die gerichtliche Überprüfung

Staatliche Gerichte verdienen nach der Rechtsprechung des EGMR Deferenz, wenn sie ihre Entscheidungen eingehend „unter Beachtung der in der Rechtsprechung des EGMR definierten Grundsätze“53 begründen. Das Besprechungsurteil stellt fest, dass sowohl das belgische Verfassungsgericht als auch der EuGH die Anforderungen des Art. 9 EMRK, wie er vom EGMR ausgelegt worden sei, umfassend berücksichtigt hätten.54 Da das Besprechungsurteil die erste Gelegenheit war, bei der sich der EGMR zu der Frage äußern konnte, ob sich der Tierschutz unter einen der legitimen Zwecke des Art. 9 Abs. 2 EMRK subsumieren lasse,55 ist nicht recht klar, welche Auslegung durch den EGMR diese Gerichte hätten berücksichtigen können. Klar ist hingegen, dass auch sie entgegen den Anforderungen der Rechtsprechung des EGMR weder auf die Frage der Angemessenheit des Eingriffs noch auf die Frage eingegangen sind, ob der Eingriff angemessen sein müsse. Die vom Besprechungsurteil getroffene Feststellung ist also zumindest fragwürdig. Voraussetzung der Deferenz, die das Besprechungsurteil dem belgischen Verfassungsgericht und dem EuGH erweist, sollte aber sein, dass sie zutrifft. Das Besprechungsurteil scheint auch hier56 den von ihm selbst aufgestellten Prüfungsmaßstab – die umfassende Berücksichtigung der Rechtsprechung des EGMR durch die staatlichen Gerichte – zu ignorieren.

2. Die eigene Prüfung durch das Besprechungsurteil

Das Besprechungsurteil stellt weiter fest, dass der gerichtlichen Überprüfung der streitigen Dekrete neben Art. 9 EMRK weitere Normen zugrunde lagen, namentlich Art. 13 AEUV, wonach die Mitgliedstaaten der EU „den Erfordernissen des Wohlergehens der Tiere als fühlende Wesen in vollem Umfang Rechnung“ tragen.57 Da die EMRK keine entsprechende Bestimmung enthält, hat es in gewissem Umfang eine eigenständige Bewertung vorgenommen und es nicht bei der Deferenz gegenüber den vorangegangenen gerichtlichen Entscheidungen belassen. Es hat zunächst daran erinnert, dass das Tierwohl als Aspekt des Schutzes der Moral eine Einschränkung der Religionsfreiheit rechtfertigen könne.58 Die streitigen Dekrete und die zu ihnen ergangenen gerichtlichen Entscheidungen hätten sich auf den wissenschaftlichen Konsens gestützt, dass die der Schächtung vorhergehende Betäubung der Schlachttiere deren Leiden am besten vermindere. Es gebe keinen Anlass, das in Frage zu stellen.59 Andere Gerichte haben diese Tatsachenfrage freilich anders beantwortet.60

Im Rahmen seiner eigenen Prüfung der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs führt das Besprechungsurteil aus, eine Maßnahme sei nur verhältnismäßig, wenn sie das Recht des Einzelnen aus Art. 9 EMRK nicht über das hinaus einschränke, was zur Erreichung des legitimen Zwecks erforderlich sei; es müsse sichergestellt sein, dass dieser Zweck nicht mit einem milderen Mittel erreicht werden könne.61 Dabei verfügten die Vertragsstaaten über einen Entscheidungsspielraum, um die widerstreitenden Interessen zu einem ausgewogenen Ausgleich zu bringen. Das Besprechungsurteil fährt fort, die Gesetzgeber hätten darauf geachtet, keine Maßnahmen zu ergreifen, die über das zur Erreichung des legitimen Zwecks Erforderliche hinausgingen. Sie hätten sich also um einen gerechten Ausgleich der widerstreitenden Interessen bemüht. Die streitige Maßnahme halte sich somit im Rahmen ihres Entscheidungsspielraums. Es sei nicht Aufgabe des EGMR, zu entscheiden, ob diese Maßnahme den für die Beschwerdeführer verbindlichen religiösen Geboten entspreche.62 Auf die Frage der Angemessenheit des Eingriffs geht das Besprechungsurteil ebenso wenig ein wie auf die Frage, ob dieser angemessen sein müsse, was festzustellen die Rechtsprechung des EGMR den Vertragsstaaten überlässt.63

3. Die Angemessenheit der streitigen Maßnahme

Auch wenn die Rechtsprechung des EGMR den Vertragsstaaten nicht vorschreibt, nur angemessene Eingriffe vorzunehmen, sondern nur, zu prüfen, ob ein Eingriff angemessen sein müsse, sei hier auf die Angemessenheit der streitigen Dekrete eingegangen. Deren Prüfung muss das Gewicht, das dem Tierschutz im konkreten Zusammenhang zukommt, gegen die Bedeutung des Gebots des Schächtens ohne vorherige Betäubung für die Beschwerdeführer abwägen. Zum Gewicht des Tierschutzes hatte der EuGH ausgeführt, dass sich der „Tierschutz als Wert“ betrachten lässt, „dem die heutigen demokratischen Gesellschaften seit einigen Jahren größere Bedeutung beimessen“.64 Diese Formulierung legt zum einen nahe, dass der Tierschutz jedenfalls kein zwingendes Gemeinwohlinteresse ist.65 Zum anderen gemahnt sie an die Warnung, dass „Großgüter des Gemeinwohls, [...] wenn unkonkretisiert in die Waagschale gelegt, [...] Abwägungsergebnisse zu Lasten der Freiheit präjudizieren“ können.66 Dem Gemeinwohlinteresse „Tierschutz“ wird in den heutigen Gesellschaften nur höchst selektiv größere Bedeutung beigemessen, und zwar namentlich dann, wenn die verpönte, dem Tierschutz zuwiderlaufende Praxis die eines anderen Kulturkreises ist.67

Mit den streitigen Dekreten haben die Gesetzgeber das Großgut des Gemeinwohls „Tierschutz“ konkretisiert, indem sie spezifisch festgestellt haben, dass das Schächten ohne vorherige Betäubung das Tierwohl erheblich beeinträchtige.68 Gleichwohl erweist sich die Berufung auf den Tierschutz zur Begründung des Verbots des Schächtens ohne vorherige Betäubung als ein Fall doppelter Moral, solange andere, der Kultur der Mehrheit konforme Beeinträchtigungen des Tierwohls wie die Massentierhaltung nicht unterbunden werden. Ein Gemeinwohlinteresse „Tierwohl“ wird aber nur dann erheblich schwerer wiegen können als das Individualinteresse an der Befolgung des Schächtgebots, wenn es zumindest den Grad an Überzeugungskraft, Ernsthaftigkeit, Schlüssigkeit (cohesion) und Bedeutung aufweist, den der EGMR zur Voraussetzung des Schutzes eines religiösen Gebots macht.69 Bei dem Gemeinwohlinteresse „Tierschutz“ ist das nach dem Gesagten auch bezogen auf das Verbot des Schächtens ohne vorherige Betäubung nicht der Fall.

Das Gewicht des Schächtgebots für die Beschwerdeführer hat das Besprechungsurteil im Rahmen der Zulässigkeitsprüfung kurz angesprochen,70 sich im Übrigen dazu aber ausdrücklich nicht geäußert; es führt sicherlich zu Recht aus, dass es nicht Aufgabe des EGMR sei, der Frage nachzugehen, ob die vorherige umkehrbare Betäubung mit den für die Beschwerdeführer verbindlichen religiösen Geboten vereinbar sei.71 Das gilt nicht nur für den EGMR, sondern ebenso für jeden Dritten, kann aber nicht bedeuten, dass die Bedeutung der Beachtung dieser Gebote für die Beschwerdeführer außer Acht zu lassen wäre.72 Es muss vielmehr bedeuten, dass der Abwägung die eigenen Angaben der Beschwerdeführer über diese Bedeutung zugrunde zu legen sind. Das Besprechungsurteil, das die Angemessenheit des Eingriffs nicht prüft, ignoriert folglich den die Gläubigen bindenden Gebotscharakter des Schächtens und die besondere Bedeutung, die das religiöse Verbot des Verzehrs von in ihren Augen nichtgeschächtetem Fleisch für diese hat.73 Hätte es diese besondere Bedeutung in Rechnung gestellt, so hätte dies das Gewicht des Individualinteresses der Gläubigen an der Befolgung des Schächtgebots signifikant erhöht. Eine Abwägung, hätte sie denn stattgefunden, hätte dann wohl ergeben, dass das Gemeinwohlinteresse „Tierschutz“ – konkretisiert: das Interesse daran, die Schmerzen des Schlachttiers „genauso wirksam zu mildern wie eine Schlachtung [...] [nach] Betäubung“74 – jedenfalls nicht erheblich schwerer wiegt als dieses Individualinteresse.75 Die Angemessenheit des fraglichen Eingriffs wäre damit zu verneinen.

IV. Die Abwägung von Konventionsrechten mit Gemeinwohlinteressen

Das Besprechungsurteil verkürzt, insofern der Rechtsprechung der Großen Kammer folgend, die Verhältnismäßigkeitsprüfung um den Aspekt, der für den Menschenrechtsschutz von der größten Bedeutung ist, den Aspekt der Angemessenheit des Eingriffs,76 und ersetzt ihn durch den Entscheidungsspielraum der Vertragsstaaten. Freilich schließt es an seine Schlussfolgerung, die nationalen Stellen hätten im entschiedenen Fall ihren Entscheidungsspielraum nicht überschritten, die Feststellung an, sie hätten eine im Grundsatz gerechtfertigte Maßnahme ergriffen, die als im rechten Verhältnis zum angestrebten Zweck, dem Schutz des Tierwohls als Aspekt der Moral, stehend angesehen werden könne.77 Das ist ein Hinweis darauf, dass die Annahme eines Entscheidungsspielraums bei der Abwägung von Konventionsrechten mit Gemeinwohlinteressen,78 wie sie das Tierwohl darstellt, die europäische Überwachung unnötig verkompliziert und in diesem Sinne problematisch ist.79 Von einem Entscheidungsspielraum lässt sich nur reden, wenn eine Entscheidung (nur) in bestimmten Grenzen zulässig, außerhalb dieser Grenzen also unzulässig ist. Geht es aber um eine Abwägung von Konventionsrechten mit Gemeinwohlinteressen, wie es bei einer Berufung des Vertragsstaats auf die Schrankenbestimmung des Art. 9 Abs. 2 EMRK der Fall ist, stellt sich die (einseitige) Frage, wie weit das Konventionsrecht reicht. Der Terminus „Entscheidungsspielraum“ trifft solche Fälle nicht gut: Bei ihnen gibt es die eine richtige Entscheidung, die freilich umstritten sein mag. Das Konventionsrecht reicht so weit, wie seine Einschränkung durch den Vertragsstaat in einer demokratischen Gesellschaft nicht notwendig, nicht verhältnismäßig ist, wobei die Einhaltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit europäischer Überwachung unterliegt.80 Der Schutz eines Konventionsrechts unter der EMRK hängt also direkt davon ab, ob „in einer demokratischen Gesellschaft notwendig“, also „verhältnismäßig“, über „geeignet“ hinaus auch „erforderlich“ oder gar „angemessen“ heißt.

Es geht, wie gesagt, um die Festlegung einer Grenze, nicht um einen Spielraum zwischen möglichen Grenzlinien. Solange diese eine Grenze nicht erreicht ist, also eine Einschränkung zum Schutz legitimer Gemeinwohlinteressen in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist, ist ein Konventionsrecht unter der EMRK schlicht nicht geschützt.81 Umgekehrt steht es dem Staat ohne konventionsrechtliche Grenze frei, weitergehende Rechte zu gewähren; auch wenn er auf den Schutz eines Gemeinwohlinteresses, etwa des Tierwohls, gänzlich verzichtete, wäre das keine menschenrechtliche Frage, soweit er damit nicht Rechte Anderer verletzte.82

Die Frage, ob die eine Grenze erreicht ist, die Einschränkung eines Konventionsrechts also verhältnismäßig ist, beantwortet in der Prozesssituation der EGMR,83 wobei er gegebenenfalls den vorhergehenden parlamentarischen und/oder gerichtlichen Entscheidungen deferieren kann.84 Hier ist die Rede vom europäischer Überwachung unterliegenden Entscheidungsspielraum irreführend: Der europäischen Überwachung unterliegt nur die Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit, also im konventionsrechtlichen Zusammenhang die Beachtung der Eignung und gegebenenfalls der Erforderlichkeit des Eingriffs zur Erreichung eines legitimen Zwecks. Über die Grenze der Verhältnismäßigkeit hinaus darf der Vertragsstaat ein Konventionsrecht nicht einschränken. Die vom Besprechungsurteil gestellte Frage nach der Enge oder Weite des Entscheidungsspielraums85 wird damit zu der Frage, wo die Grenze zwischen einer verhältnismäßigen und einer unverhältnismäßigen Einschränkung zu ziehen ist.

V. Schluss

Das Besprechungsurteil ist in vieler Hinsicht unbefriedigend. Das Ergebnis überzeugt nicht: Dass das Recht zweier vielleicht fundamentalistischer religiöser Minderheiten auf Bekenntnis ihrer Religion durch Riten dem selektiven Tierschutzgewissen einer (post-)christlichen Mehrheit weichen muss, ist schwerlich damit in Einklang zu bringen, dass dieses Recht einen der wesentlichsten Aspekte der Identität der Gläubigen und ihrer Sicht des Lebens schützt.86 Dass das Besprechungsurteil auf dem Weg zu diesem Ergebnis die ständige Rechtsprechung, die Lehre vom „Leben“ der EMRK nur mit dem Ziel einer Verstärkung der Konventionsrechte anzuwenden, aufgibt, ist bedauerlich. Im Übrigen entspricht es wohl der ständigen Rechtsprechung, insbesondere darin, dass es den ʺprocedural turnʺ mitvollzieht und auch im Rahmen seiner eigenständigen Prüfung die Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit weitgehend dem Entscheidungsspielraum der Vertragsstaaten überlässt, wobei es nur die Aspekte der Eignung und der Erforderlichkeit des Eingriffs zur Erreichung des legitimen Zwecks, nicht aber den Aspekt der Angemessenheit prüft. Es schützt damit, und das gilt zugleich für die ständige Rechtsprechung. entgegen der Intention der EMRK nicht Menschenrechte im Kontext der Demokratie, sondern umgekehrt die Demokratie im Kontext der Menschenrechte.87

Footnotes

1

EuGH, Centraal Israëlitisch Consistorie van België u. a., C-336/19, Urteil vom 17. Dezember 2020 (GK).

2

Zu dem Begriff Deferenz s. Text bei Fn. 30 f.

3

S. Theodor Schilling, Das Recht auf Befolgung von Religions-, Weltanschauungs- und Gewissensgeboten – Eine normative Betrachtung, in: ZöR 78 (2023), S. 341–376 (361).

4

Besprechungsurteil, Rn. 65, mit Verweis auf EGMR, Cha’are Shalom Ve Tsedek ./. Frankreich (27417/95), Urteil vom 27. Juni 2000 (GK), Rn. 74.

5

Besprechungsurteil, Rn. 87 f.

6

Besprechungsurteil, Rn. 91, unter Verweis auf EGMR, S.A.S. ./. Frankreich (43835/11), Urteil vom 1. Juli 2014 (GK), Rn. 113.

7

So ausdrücklich EGMR, Navalnyy ./. Russland (29580/12 u. a.), Urteil vom 15. November 2018 (GK), Rn. 120.

8

Dazu s. EGMR, S.A.S. (Fn. 6), Rn. 114.

9

Besprechungsurteil, Rn. 93.

10

Besprechungsurteil, Rn. 94, mit Verweis auf EGMR, PETA Deutschland ./. Deutschland (43481/09), Urteil vom 8. November 2012, Rn. 47, und EGMR, Friend u. a. ./. Vereinigtes Königreich (16072/06), Beschluss vom 24. November 2009, Rn. 50.

11

Besprechungsurteil, Rn. 95.

12

Dasselbe gilt für EGMR, S.A.S. (Fn. 6), Rn. 121.

13

S. etwa EGMR, Stafford ./. Vereinigtes Königreich (46295/99), Urteil vom 28. Mai 2002, Rn. 68; EGMR, Sergey Zolotukhin ./. Russland (14939/03), Urteil vom 10. Februar 2009 (GK), Rn. 78.

14

S. Laurence R. Helfer/Erik Voeten, Walking Back Human Rights in Europe?, in: EJIL 31 (2020), S. 797–827; dagegen Alec Stone Sweet/Wayne Sandholtz/Mads Andenas, Dissenting Opinions and Rights Protection in the European Court: A Reply to Laurence Helfer and Erik Voeten, in: EJIL 32 (2021), S. 897–905.

15

Besprechungsurteil, Rn. 97, mit Verweis auf EuGH, Centraal Israëlitisch Consistorie (Fn. 1), Rn. 77.

16

Besprechungsurteil, Rn. 98.

17

EGMR, Bayev u. a. ./. Russland (67667/09 u. a.), Urteil vom 20. Juni 2017, Rn. 70.

18

Besprechungsurteil, Rn. 99.

19

Zu diesem s. etwa Theodor Schilling, „Vom Rechte, das mit uns geboren ist“. Überlegungen aus Anlass von EGMR, Fedotova gegen Russland (2023), in: EuGRZ 2024, S. 7–20 (13).

20

Besprechungsurteil, Rn. 106.

21

Ähnlich, freilich mit dem Ziel einer Erweiterung des Menschenrechtsschutzes, EGMR, Christine Goodwin ./. Vereinigtes Königreich (28957/95), Urteil vom 11. Juli 2002 (GK), Rn. 85.

22

S. etwa EGMR, Vogt ./. Deutschland (17851/91), Urteil vom 26. September 1995 (GK), Rn. 52 (ii).

23

S. dazu bereits Schilling (Fn. 19), S. 13.

24

Besprechungsurteil, Rn. 103, unter Verweis auf EGMR, Bayatyan ./. Armenien (23459/03), Urteil vom 7. Juli 2011 (GK), Rn. 123.

25

S. etwa EGMR, A, B und C ./. Irland (25579/05), Urteil vom 16. Dezember 2010 (GK), Rn. 223; Besprechungsurteil, Rn. 104.

26

Besprechungsurteil, Rn. 104 ff.

27

Besprechungsurteil, Rn. 104.

28

Dazu s. etwa Oddný Mjöll Arnardóttir, The “procedural turn” under the European Convention on Human Rights and presumptions of Convention compliance, in: International Journal of Constitutional Law 15 (2017), S. 9–35.

29

S. etwa Theodor Schilling, Internationaler Menschenrechtsschutz, 4. Aufl. 2022, Rn. 57–60.

30

Etwa Arnardóttir (Fn. 28), passim.

31

S. Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, Neubearbeitung (²DWB), Band 6, Spalte 524, Zeile 65: „1 ehrerweisung [...] 2 seltener als verhaltensweise, ehrfurcht, unterwürfigkeit“

32

Besprechungsurteil, Rn. 105; EGMR, S.A.S. (Fn. 6), Rn. 153.

33

EGMR, Perinçek ./. Schweiz (27510/08), Urteil vom 15. Oktober 2015 (GK), Sondervotum Nußberger, betrachtet es als gesellschaftliche Grundentscheidung, die Rechte der Opfer von Genoziden und anderen Greueln ungeachtet des Ortes zu schützen, wo sie begangen wurden. Hier scheint ein materieller Aspekt in den Begriff einzufließen, der bei den anderen Anwendungen fehlt.

34

EGMR, S.A.S. (Fn. 6), Rn. 153.

35

EGMR, Belcacemi und Oussar ./. Belgien (37798/13), Urteil vom 11. Juli 2017, Rn. 53.

36

Besprechungsurteil, Rn. 105.

37

Kritisch zur gesellschaftlichen Grundentscheidung auch EGMR, S.A.S. (Fn. 6), Gemeinsame, teilweise abweichende Stellungnahme der Richter Nußberger und Jäderblom, Rn. 13 f.; EGMR, Belcacemi und Oussar (Fn. 34), Sondervotum des Richters Spano, dem Richterin Karakaş beipflichtet, Rn. 7 und 9.

38

S. etwa EGMR, Bayev (Fn. 17), Rn. 70; auch EGMR, Fedotova u. a. ./. Russland (40792/10 u.a.), Urteil vom 17. Januar 2023 (GK), Abweichende Stellungnahme des Richters Wojtyczek, Rn. 2.1: „Convention rights are by definition counter-majoritarian claims”.

39

Besprechungsurteil, Rn. 107.

40

Besprechungsurteil, Rn. 108.

41

Besprechungsurteil, Rn. 109 f.

42

Besprechungsurteil, Rn. 109.

43

Besprechungsurteil, Rn. 110.

44

EGMR, Advisory opinion as to whether an individual may be denied authorisation to work as a security guard or officer on account of being close to or belonging to a religious movement (P16-2023-001), Gutachten vom 14. Dezember 2023 (GK), Rn. 114.

45

Darauf weisen Besprechungsurteil, Sondervoten der Richterin Koskelo, der der Richter Kuris beipflichtet, Rn. 2 ff., sowie der Richterin Yüksel, Rn. 5 ff., hin; s. die entsprechenden Nachweise ebenda.

46

Zu diesem (und weiteren) Synonym(en) für die Angemessenheit s. etwa Mike Wienbracke, Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, in: Zeitschrift für das Juristische Studium 6 (2013), S. 148–154 (152).

47

S. etwa Bundesministerium der Justiz, Verhältnismäßigkeit als rechtsstaatliches Grundprinzip, abrufbar unter: https://www.bmj.de/DE/rechtsstaat_kompakt/rechtsstaat_grundlagen/verhaeltnismaessigkeit/verhaeltnismaessigkeit_node.html (zuletzt besucht am 28. März 2024).

48

Die Formulierung „outweigh the consequences“ („whether the interest pursued by the unfavourable measure ... must outweigh the consequences for the person concerned”) [EGMR, Advisory opinion (Fn. 44), Rn. 115] findet sich sonst nicht in der Rechtsprechung.

49

EGMR, Advisory opinion (Fn. 44), Rn. 115: „it is for the competent national authorities to ascertain whether the interest pursued by the unfavourable measure [...] must outweigh the consequences for the person concerned. To that end, the following considerations must be taken into account: …”

50

Besprechungsurteil, Rn. 25, Nr. 1.1.4.5 der Begründung des Dekrets, wo Nr. 1.1.4.2 zitiert wird.

51

Ibid.

52

EGMR, Eweida u. a. ./. Vereinigtes Königreich (48420/10 u. a.), Urteil vom 15. Januar 2013, Rn. 81; EGMR, İzzettin Doğan u. a. ./. Türkei (62649/10), Urteil vom 26. April 2016 (GK), Rn. 69.

53

Besprechungsurteil, Rn. 111.

54

Besprechungsurteil, Rn. 115.

55

Besprechungsurteil, Rn. 92.

56

S. Text bei Fn. 12.

57

Besprechungsurteil, Rn. 115.

58

Ibid.

59

Besprechungsurteil, Rn. 116.

60

S. etwa österr. Verfassungsgerichtshof (öVfGH), Geschäftszahl B3028/97, Urteil vom 17. Dezember 1998, Rn. II B 2.7.1, m. w. N.: der Ritus des Schächtens wurzele „nicht etwa in einer gleichgültigen oder gar aggressiven Haltung dem Tier gegenüber [...], sondern [lege] auf die bestmögliche Vermeidung von Schmerzen, Leiden und Angst bei den zu schlachtenden Tieren höchsten Wert“; vertiefend namentlich Brigitte Schinkele, Religionsfreiheit und Tierschutz. Schächten aus verfassungsrechtlicher Sicht, in: Richard Potz/Brigitte Schinkele/Wolfgang Wieshaider (Hrsg.), Schächten. Religionsfreiheit und Tierschutz, 2001, S. 49–96; auch etwa Heike Baranzke, Streitfall Schächten: Impuls für eine interkulturelle Tierethik?, in: GAIA 12 (2003), S. 313–314; Hanna Rheinz, Schechita – Öko-Kaschrut – Veganismus, in: GAIA 12 (2003), S. 314–316; Ilhan Ilkilic, Das islamische Schächten als Herausforderung für die multikulturelle Gesellschaft, in: GAIA 12 (2003), S. 316–317.

61

Besprechungsurteil, Rn. 117, mit Verweis auf EGMR, Advisory opinion (Fn. 44), Rn. 114. Kritisch dazu die Sondervoten; s. Text bei Fn. 45.

62

Besprechungsurteil, Rn. 118 f.

63

EGMR, Advisory opinion (Fn. 44), Rn. 115.

64

So EuGH, Centraal Israëlitisch Consistorie (Fn. 1), Rn. 77; ähnlich öVfGH (Fn. 60), Rn. II B 2.7.1.

65

Nach öVfGH (Fn. 60), Rn. II B 2.7.1., ist „[d]er Tierschutz [...] für die öffentliche Ordnung nicht von derart zentraler Bedeutung, dass er das Verbot einer Handlung verlangt, die einem jahrtausendealten Ritus entspricht“.

66

Dieter Grimm, Gemeinwohl in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: Herfried Münkler/Karsten Fischer (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn im Recht, 2002, S. 125–140 (136).

67

Zu erwähnen ist hier das viel erörterte Verbot der Einfuhr und/oder Produktion von foie gras namentlich im angelsächsischen Kulturkreis, aber auch in Deutschland.

68

Besprechungsurteil, Rn. 25, Nr. 1.1.4.5 der Begründung des Dekrets, wo Nr. 1.1.4.2 zitiert wird.

69

EGMR, Eweida (Fn. 52), Rn. 81; st. Rspr.

70

Besprechungsurteil, Rn. 87.

71

Besprechungsurteil, Rn. 86.

72

So aber Besprechungsurteil, Rn. 119.

73

Ein gewisses Unbehagen am Schächtverbot zeigt sich in EGMR, Cha'are Shalom Ve Tsedek ./. Frankreich (27417/95), Urteil vom 27. Juni 2000 (GK), Gemeinsame Abweichende Stellungnahme der Richter Sir Nicolas Bratza, Fischbach, Thomassen, Tsatsa-nikolovska, Panţîru, Levits und Traja; sowie bei GA Hogan, SAe in EuGH, Centraal Israëlitisch Consistorie (Fn. 1), Rn. 77.

74

EuGH, Centraal Israëlitisch Consistorie (Fn. 1), Rn. 43.

75

So schon Schilling (Fn. 3), S. 363.

76

Die Sondervoten (Fn. 45) möchten die Prüfung auch noch um den Aspekt der Erforderlichkeit kürzen, weil dieser den Entscheidungsspielraum der Vertragsstaaten einschränke.

77

Besprechungsurteil, Rn. 123.

78

Sie liegt der EMRK insgesamt zugrunde: S. etwa EGMR, Rees ./. Vereinigtes Königreich (9532/81), Urteil vom 17. Oktober 1986 (Plenum), Rn. 37 Abs. 3; EGMR, Christine Goodwin (Fn. 21), Rn. 72.

79

Dazu bereits Schilling (Fn. 19), S. 19 f.

80

S. auch EGMR, Fedotova (Fn. 38), Teilweise abweichende Stellungnahme von Richter Pavli, dem die Richterin Motoc beipflichtet, Rn. 7 f.

81

Ebenso EGMR, Z ./. Finnland (22009/93), Urteil vom 25. Februar 1997, Abweichende Stellungnahme des Richters De Meyer: „Les formules creuses que nous répétons dans nos arrêts [...] au sujet de la marge d’appréciation des Etats ne sont que des circonlocutions inutiles, qui ne nous servent qu’à indiquer, d’une manière abstruse, que les Etats peuvent faire tout ce que nous ne considérons pas comme incompatible avec les droits de l’homme.“

82

Diese Möglichkeit wird im Besprechungsurteil, Rn. 102, dahingestellt gelassen.

83

S. etwa EGMR, Vogt (Fn. 22), Rn. 52 (ii).

84

So am Ende auch Besprechungsurteil, Rn. 123.

85

Besprechungsurteil, Rn. 106.

86

So EGMR, Buscarini u. a. ./. San Marino (24645/94), Urteil vom 18. Februar 1999 (GK), Rn. 34.

87

S. dazu Steven Greer, The Margin of Appreciation: Interpretation and Discretion Under the European Convention on Human Rights, 2000, S. 26.